JAMÖ Case Cafe Graz

Seit gut 2 Jahren gibt es nun das JAMÖ Case Café in Graz.

Dabei treffen wir uns einmal im Monat in der Ordination von Dr Michael Wendler. In kleinen Gruppen (maximal 5 Studierende und/oder Jungärztinnen/Jungärzte) besprechen wir allgemeinmedizinische Themen, fahren zu Hausbesuchen oder behandeln Patientinnen und Patienten direkt in der Praxis.

Am letzen Dienstag, den 14.01.20 fand also das erste Case Café im heurigen Jahr statt.
Thematisch wollten wir die erlebte Anamnese und geriatrische Differentialdiagnosen erarbeiten.
Zu diesem Zweck fuhren wir zu drei Hausbesuchen.

Mit dem „geriatrischen Pizzaexpress“ (so nennt Dr Wendler sein Elektroauto) ging is in die Tiefen der Grazer Randgemeinde zu einem betagten Ehepaar. Beide waren seit Jahren nicht im Kontakt mit der Primärversorgung, Herr P jedoch vor kurzem aufgrund einer Gastroenteritis in stationärer Behandlung. Seitdem besteht nun auch wieder Kontakt zur hausärztlichen Versorgung. Die Wohnung ist unordentlich, in allen Ecken stapeln sich Bücher, halb angebrauchte Spirituosen und Porzellan.
Zusätzlich habe Herr P vor kurzem heiße Asche in die Papiertonne entleert, welche (wie zu erwarten war) Feuer fing. Im genaueren Gespräch mit Herrn und Frau P fällt uns auf, dass sich wohl kognitive Defizite breit machen dürften.
Im zweiten Akt besuchten wir eine alleinstehende Dame. Die Wohnung von Frau I. war sehr aufgeräumt und ordentlich, Frau I selbst erfreute sich guten Befindens. Ihr wurde die übliche Dosis an Ibandronsäure verabreicht und wir verließen das Haus. Dr Wendler erzählte mir danach, dass Frau I bis vor kurzem an heftigen Depressionen litt, und die Wohnung der des Ehepaars P. glich. Die Töchter von Frau I hatten die Gelegenheit genutzt, und die Wohnung während eines Krankenhausaufenthaltes der Mutter auf Vordermann gebracht.
Zu guter Letzt ging es in eine kleine Wohnung, in der die Mutter Frau G. (80 Jahre) mit der Tochter (ca 60 Jahre) zusammenlebt. Frau G. hat degenerative Wirbelsäulen-veränderungen und damit Schmerzen, zusätzlich würde ihr in letzter Zeit das Gehen sehr schwer fallen. Auf die Vorschläge von Dr Wendler (Pflegebett, Leibstuhl etc…) reagiert Frau G. fast etwas beleidigt und aggressiv. Sie möchte „das Alles“ nicht, außerdem würde die Tochter diese Dinge in ihrer Wohnung eh nicht erlauben. Stattdessen mache es für sie mehr Sinn, sich an der Wirbelsäule operieren zu lassen.

Alle 3 Visiten boten ein ähnliches Bild, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Im ersten Fall wurde das Messi-Verhalten aufgrund der kognitiven Einschränkung und der zunehmenden Frailty des Ehepaares hervorgerufen. Im zweiten Fall hielt eine Depression und die „Überforderung“ mit der Lebenssituation im Alter Frau I davon ab, ihren gewohnten Ablauf aufrecht zu halten. Dr Wendler hat dies so beschrieben: „Mit der Zeit reichten die 12 Stunden Tageslicht bei Frau I nicht mehr aus, um dem Tagesablauf (Frühstück, persönliche Hygiene, Einkaufen, Essen kochen, Putzen) gerecht zu werden.“ Damit baute sich ein Teufelskreis auf.
Zu guter Letzt scheinen die Umstände einem tiefliegendem Konflikt zwischen Mutter und Tochter geschuldet. Nach genauerer Anamneseerhebung scheint die Mutter sich sehr an die Tochter zu klammern, um eine Versorgung im Alter zu haben. Die Tochter rächt sich nun in gewisser Weise an der Mutter, die ihr die Selbstständigkeit verwehrt hat.

So kommt man mit 3 völlig unterschiedlichen Geschichten zu einem ähnlichen Ergebnis. Die hausärztliche Versorgung spielt in diesen Fällen eine große Rolle, um entsprechende Hilfen anbieten zu können, mit Angehörigen zu kommunizieren, und so die Lebensumstände (und Gesundheit!) der betroffenen Menschen zu verbessern.
Das Privileg der hausärztlichen Visite macht es erst möglich, all diese Dinge zu verstehen und zu erahnen, und gehört für mich zu einem der schönsten Punkte der Allgemeinmedizin.

Ich kann jeder und jedem nur empfehlen, sich auch einmal einem der monatlich stattfindeten Grazer Case Cafés anzuschließen. Neben dem klinischen Alltag ist das Case Cafe eine willkommene Abwechslung, um mit der Allgemeinmedizin im Kontakt bleiben zu können.

Ausschreibungen gibt es auf Facebook, der JAMÖ Homepage und via Mail. Ihr könnt euch bei Fragen oder Interesse gerne bei mir (matthias.berner@jamoe.at) melden, oder auch direkt mit Dr Michael Wendler (wendler.lehrpraxis@posteo.at) in Kontakt treten.