Ein Interview mit: In den vergangenen Monaten wurde viel über die Situation auf Notfallabteilungen, Normal- und Intensivstationen berichtet. Abgelöst wurden diese Berichte von einer Berichterstattung aus einem politischen und wirtschaftlichen Blickwinkel. Über den Weg, den (vermeintlich) Corona-Infizierte, aber auch andere Patienten in dieser Zeit außerhalb des Spitalsystems gegangen sind, ist allgemein wenig bekannt. ARZT & PRAXIS erreichte Dr. Stephanie Poggenburg, die in der Nähe von Graz eine ländliche allgemeinmedizinische Ordination betreibt, für ein Gespräch sowie eine Schilderung der Ereignisse und Umstände aus erster Hand. Das Interview wurde am 25. Mai 2020 geführt. |
ARZT & PRAXIS: Frau Dr. Poggenburg, wie läuft der Alltag in Ihrer Ordination momentan ab? Wie sehr unterscheidet er sich von der Zeit vor Corona?
Dr. Stephanie Poggenburg: Seit zwei bis drei Wochen geht der Alltag wieder in Richtung Normalität. Es ist noch nicht so wie vorher, aber wir haben wieder mehr Patienten in der Ordination. Während des Lockdowns durften Patienten nur nach Anmeldung kommen, häufig waren dies akut Erkrankte. Noch immer wird vieles telefonisch abgewickelt, wie z. B. einfache Befundbesprechungen. Wir führen allerdings wieder sehr regelhaft und unkompliziert Haus- und Heimbesuche mit entsprechenden Schutzmaßnahmen durch – das war ein unglaublich drängendes Thema. Nach wie vor wird strikt zwischen infektiösen und nicht-infektiösen Patienten im Ordinationsbetrieb getrennt und es werden konsequent Termine vergeben. Zu Beginn der Pandemie wurde auf meinen Wunsch von der örtlichen Feuerwehr ein eigenes Zelt vor meiner Ordination aufgebaut, in dem wir infektiöse Patienten u. a. mit Corona-Verdacht untersuchen konnten.
Und dieses Zelt haben Sie nach wie vor?
Ja, und ich will es auch so lange wie möglich behalten. Die strikte räumliche Trennung der Patienten und die Untersuchung unter Schutzbedingungen haben sich einfach bewährt.
Wie haben Sie den Beginn der Corona-Krise erlebt?
Das war Anfang März, also noch vor dem Lockdown. Ich wurde abends angerufen, weil es in der Volksschule, in der ich auch als Schulärztin tätig bin, einen Verdachtsfall gab. Es begann dann die Diskussion über eine Schulschließung. Es gab eine Informationsrunde mit dem Bürgermeister, der Schulleitung und der Lehrerschaft; gemeinsam wurden erste Maßnahmen gesetzt – zu dem Zeitpunkt war dies alles Neuland.
Von da an ging alles recht schnell: Wir haben innerhalb weniger Tage den Ordinationsbetrieb, aber auch die Ordination selbst täglich umgestaltet und an die Situation adaptiert. Eine wichtige Frage war, wer überhaupt kommen durfte. Weil es nicht im Fokus der Politik und der Medien stand und auch jetzt oft wenig beachtet wird, ist es mir wichtig, zu betonen, dass die überwiegende Mehrzahl der Hausarztkollegen in den Ordinationen verfügbar und für ihre Patienten da war. Auf Urlaub wurde vielfach verzichtet, wir waren tatsächlich durchgehend und auch am Wochenende erreichbar. Vieles konnten wir ambulant abklären und behandeln – auch viele Krankheitsbilder, die normalerweise der Behandlung in diversen Ambulanzen bedürfen, denn diese waren ja nicht für die Patienten verfügbar. Dies war aber nur möglich, weil wir als Hausärzte ein enges und vertrautes Verhältnis zu unseren Patienten haben. Gerade im ländlichen Raum sind diese Dezentralität und die Verankerung in der Gemeinde ein wesentliches Erfolgskriterium. Auch die Abstimmung auf Gemeindeebene zwischen Bürgermeister, Apotheke, Schule und uns Allgemeinmedizinern hat entsprechend gut funktioniert und dazu geführt, dass die meisten Patienten gut versorgt waren. Zudem war die Zusammenarbeit mit den fachärztlichen Kollegen in meinem Fall hocherfreulich, wie z. B. die telekonsiliarische Klärung dermatologischer Fragestellungen.
Nichtsdestotrotz kam es durch den Lockdown im Gesundheitswesen auch zu einer beträchtlichen Anzahl an Kollateralschäden bei unseren Patienten durch stark eingeschränkte oder verzögerte Diagnostik und Therapie in den weiterführenden Ebenen. Daraus sollte man unbedingt für eine mögliche zweite Welle lernen.
Wie hat die klinische Untersuchung bei Corona-Verdacht funktioniert? Haben Sie auch selbst Corona-Testungen durchgeführt?
Zu Beginn stand der Mangel an Schutzausrüstung einer eingehenden Untersuchung und der Testung im Wege. Das Hauptproblem war aber, dass zu allen bereits existierenden Erkrankungen COVID-19 als Herausforderung hinzukam. Dies wurde oft missverständlich kommuniziert: Man hatte manchmal den Eindruck, es gäbe lediglich „COVID-19 oder gesund“. Daher kam es in vielen Fällen zu gefährdenden Situationen für die Patienten, die den Eindruck hatten, dass sie das Gesundheitssystem meiden sollten.
Wenn ich einen Patienten unter entsprechenden Schutzvorkehrungen untersucht habe, Blut abgenommen habe etc., habe ich ihn auch gleich selbst getestet. Dabei war es aufgrund der Unvorhersehbarkeit des Krankheitsverlaufs besonders bedeutsam, die Patienten engmaschig zu betreuen. Es gab eben auch multimorbide geriatrische Patienten mit sehr leichten klinischen Verläufen einerseits und auf der anderen Seite junge, ansonsten gesunde Menschen, die intensivpflichtig wurden.
Wie war die Versorgung mit Corona- Testkits bzw. mit Schutzausrüstung?
Niemand war auf eine Pandemie vorbereitet. In keiner Praxis, keinem Krankenhaus und keinem Land der Welt. Auf dem Markt war nichts mehr zu bekommen. Das galt auch für offizielle Stellen – das war das Problem. Es sollte vermieden werden, dies allein Hausärzten vorzuwerfen. Wir haben sehr eigeninitiativ und kollegial gehandelt, oft haben Kollegen und Bekannte auch aus dem Ausland geholfen, in vielen Fällen auch örtliche Betriebe, und wir haben im Verlauf mehrfach Schutzbekleidung von der Ärztekammer erhalten. Es wäre wünschenswert, mehr Unterstützung aus öffentlicher Hand zu bekommen, nicht zuletzt als Zeichen der Wertschätzung unserer Arbeit.
Wie bewerten Sie die diesbezügliche Unterstützung durch die Behörden und andere öffentliche Institutionen zu Beginn der Pandemie und heute?
Ein immer noch existentes Problem ist, dass wir Hausärzte nicht über COVID- 19-positive Patienten in unserer Gemeinde informiert werden, die über die Gesundheitshotline 1450 getestet wurden. Wir sind darauf angewiesen, dass sich die Patienten selbst bei uns melden. Dadurch habe ich ein doppeltes Informationsdefizit: Einerseits kann ich mich nicht adäquat um meinen Patienten kümmern und andererseits könnte er auch verbotenerweise infiziert zu mir kommen, ohne dass ich das weiß. Die Koordination und die Kommunikation zwischen den entsprechenden Stellen sind weiterhin unbefriedigend.
Was wären Ihre Forderungen oder Wünsche an die Politik im Umgang mit der Pandemie?
Ich vermisse die Fragestellung, was gut funktioniert hat! Eine Analyse dessen, was die Hausärzte, die in Zeiten des Lockdowns diejenigen waren, die Patienten am konsequentesten betreut haben, geleistet haben. Ich bin davon überzeugt, dass es deswegen weniger Kollateralschäden gab. Dies gilt es wissenschaftlich zu untermauern. Wie wir inzwischen wissen, waren die Krankenhäuser gering belegt, die Ambulanzen für uns quasi nicht verfügbar. Die hausärztliche Versorgung, die dezentral und gemeindeintegriert funktioniert, hat ihre Funktion und Leistungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Man sollte sich jetzt wirklich ernsthaft und unter Einbeziehung der praktisch vor Ort Tätigen fragen, was man hieraus für die weitere Planung hausärztlicher Versorgung lernen kann. Und vielleicht auch einmal kritisch überdenken, ob man weiterhin Länder, in denen die Versorgung während der Pandemie für die Patienten weitaus schlechter war als jene in Österreich, als Vorbilder für die zukünftige Primärversorgung in Österreich heranziehen möchte.
Ist für Sie Telemedizin in der Patientenversorgung allgemein – also auch abseits von COVID-19 – ein Thema?
Bei der Telemedizin stellt sich die Frage nach der praktischen Umsetzung der technischen Möglichkeiten. Ein Großteil unserer Patienten ist in einem höheren Alter und tut sich im Umgang mit Tools wie Videokonsultationen schwer. Zudem ist dies ein zwangsläufig eindimensionales Format und entspricht im Grunde nicht der hausärztlichen Arbeitsweise – diese ist multidimensional. Es geht darum, den Patienten in seiner Gesamtheit zu erleben. Schon die Maske, die wir nun alle tragen, macht den Umgang mit den Patienten und die Kommunikation ungleich schwieriger. Die klinische Untersuchung steht in der Allgemeinmedizin im Vordergrund – wir haben nur wenige Geräte, wir palpieren, wir auskultieren, wir nutzen alle unsere Sinne zur Diagnostik.
Etwas anderes ist das Monitorisieren gewisser Parameter wie Blutdruck oder Blutzucker. Aber die Hausarztmedizin lebt von der direkten Beziehung. Das wird auch beim Hausbesuch, bei dem man noch mehr Informationen erhält als in der Praxis, deutlich. Aber ich glaube, die Telemedizin wird kommen, und das macht das Thema wichtig. Ich sehe ihre Rolle allerdings als sinnvolle Ergänzung, nicht als Ersatz.
Kommen wir zur Ausbildung. Wie zufrieden sind Sie mit der aktuellen Ausbildung – mit stärkerer Betonung der Lehrpraxis –, die seit 2015 vorgesehen ist?
Die Etablierung einer halbjährigen Lehrpraxis war elementar, um die Qualität der hausärztlichen Ausbildung zu verbessern. Dies stellt aber nur einen ersten Schritt einer Entwicklung dar, die durch Einführung eines Facharztes für Allgemeinmedizin und eine damit grundlegende Ausbildungsreform fortgesetzt werden muss. Die Lehrpraxiszeit ist der Schlüssel dazu, mehr junge Allgemeinmediziner zur Gründung einer eigenen Ordination zu motivieren. Die Sicherheit, die man braucht, wenn man auf sich allein gestellt arbeitet, erreicht man nur durch die Erfahrung in dem Umfeld, in dem man später auch tätig ist.
Um das Problem zu veranschaulichen: Ärzte in Ausbildung zum Allgemeinmediziner rotieren primär durch verschiedene Krankenhausabteilungen, um ihr Fachgebiet kennenzulernen. In der Facharztausbildung ist man hingegen (hauptsächlich) im eigenen Bereich unterwegs. Es braucht daher – nach Vermittlung der Grundlagen – eine tiefergehende, intensivere Ausbildung in der Ordination. Um international wettbewerbsfähig zu sein, wäre langfristig eine Ausdehnung der Lehrpraxiszeit auf zwei Jahre wünschenswert. Im „Masterplan Allgemeinmedizin“, an dem ich auch als Co-Autorin beteiligt war, haben wir als Österreichische Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) alle diesbezüglich notwendigen Schritte zusammengefasst.
Hat Ihr Bereich genug Zulauf? Manchmal hat man ja das Gefühl, dass die Wertschätzung gegenüber den Allgemeinmedizinern größer sein könnte …
Wir Hausärzte haben überhaupt kein Problem, wenn man sich die Wertschätzung anschaut, die uns unsere Patienten entgegenbringen. Da sind wir mit Sicherheit Spitzenreiter unter allen Arztberufen.
Die wahrgenommene Wertschätzung, die den Allgemeinmedizinern von Stakeholdern und zum Teil auch von Facharztkollegen entgegengebracht wird, ist allerdings erschreckend gering. Das zeigt auch eine groß angelegte, länderübergreifende Studie, die ich in meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung durchgeführt habe. Die mangelnde Wertschätzung schlägt sich auch in der täglichen Praxis nieder: Ein Problem ist, dass der Allgemeinmediziner zwar einerseits vieles machen darf, wozu er sich als Arzt befähigt fühlt, andererseits aber sehr vieles nicht abrechnen darf. Dazu gehören beispielsweise Ultraschalluntersuchungen, die viele meiner Kollegen so wie ich völlig unentgeltlich durchführen – einfach, um die Qualität der Diagnostik zu verbessern und Folgekosten zu senken.
Man stelle sich vor, dass wir in der Steiermark im 2. und 3. Quartal nur in 2 % der Behandlungsfälle eine CRP-Untersuchung auf Kosten der ÖGK durchführen können – dabei könnte uns dieses diagnostische Tool gerade in der Zeit der Corona-Krise wichtige Hinweise zur Differenzialdiagnose infektiöser Erkrankungen liefern und alle folgenden Ebenen des Gesundheitssystems entlasten. Es wäre entscheidend, mehr im Interesse der Qualität sowie niedrigerer Folge- und Gesamtkosten zu denken.
Eine rezent publizierte Studie zeigt, dass Patienten in Österreich zunehmend direkt Spitalsambulanzen und Fachärzte ohne vorhergehende hausärztliche Konsultation aufsuchen. Womit erklären Sie sich diesen Trend und wie kann man ihm allenfalls entgegenwirken?
In Österreich existiert keine Lenkung der Patientenströme. Ein Gatekeeping ist allerdings schon vielfach gefordert worden. Es gibt diesbezüglich auch aus anderen Ländern sehr positive Erfahrungen. Grundvoraussetzung wäre aber, die lenkende und koordinierende Funktion der Hausärzte anzuerkennen und die Gesamtkosten zu betrachten. Die Finanzierung aus zwei Töpfen, wie derzeit existent, scheint hier eher hinderlich zu sein.
In Baden-Württemberg beispielsweise hat man mit der „Hausarztzentrierten Versorgung“ ein Versorgungsmodell geschaffen, das sowohl für Ärzte als auch für Patienten große Vorteile bietet. Zudem senkt es die Gesamtkosten. Es ist sicher dringend an der Zeit, solche Modelle in Österreich zu etablieren – dies könnte auch attraktivierend für nachfolgende Ärzte sein, denn das Problem der Pensionierungswelle bei Hausärzten und des mangelnden Interesses am Hausarztberuf ist nach wie vor nicht gelöst.
Sind neben einer anderen Finanzierung Primärversorgungseinheiten (PVE) eine Lösung?
Der Gedanke, der eigentlich hinter der Errichtung von PVEs steckt, nämlich das Konzept von Primary Health Care (PHC), ist sehr positiv zu sehen. Durch die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen aus dem Gesundheitssystem soll die Qualität der Patientenversorgung verbessert werden. Leider wird dies oft bei der Umsetzung miss-interpretiert: Da geht es dann auf einmal um die Reduktion von Ärztestellen, da ja ärztliche Arbeit durch andere Berufsgruppen übernommen werden soll. Dies entspricht jedoch nicht dem Gedanken von Interprofessionalität, sondern bedeutet Transprofessionalität, die nicht im PHC-Konzept vorgesehen war.
Grundsätzlich sind ein differenziertes und vielfältiges Angebot im extramuralen Bereich und auch die Einrichtung von PVEs eine gute Sache. Es sollte aber in erster Linie immer darum gehen, bedarfs- und regionsspezifisch die beste Versorgungsform zu schaffen, und nicht darum, in welcher Zeit und Anzahl PVEs als politisches Ziel errichtet werden. Dies kann aufgrund der spezifischen topografischen Situation in Österreich auch eine große Zahl kleiner Versorgungsstrukturen bedeuten, da ja – wie schon zuvor erklärt – gerade die wohnortnahe, gemeindeintegrierte, persönliche und kontinuierliche Patientenversorgung wesentlich ist. Man sollte vielmehr flexibel und in Zusammenarbeit mit den vor Ort Tätigen die spezifisch für den Ort oder die Region ideale Versorgungsstruktur gestalten. Dies würde sicherlich auch dazu beitragen, dem Nachwuchsmangel in der Allgemeinmedizin wirkungsvoll entgegenzutreten.
Die Wirksamkeit hausärztlicher Tätigkeit, die wissenschaftlich durchaus nachweisbar ist, ist nicht von der Organisationsform, sondern von der fachspezifischen Arbeitsweise abhängig, die in jedweder Struktur aufrechterhalten werden sollte. Diese hausärztliche Arbeitsweise, so konnten wir in unserer Studie (siehe oben) zeigen, ist auch der wesentliche Grund für junge Mediziner, diesen Beruf zu wählen.
Vielen Dank für das Gespräch!