Vor etwa einem Jahr haben wir uns über Niederlassung und das Leben als Hausärztin unterhalten. Für beide hat sich sehr viel verändert: Dr. Silke Eichner ist jetzt schon fast ein Jahr in der Praxis und seit Jänner 2017 in einer Gruppenpraxis tätig, Dr. Barbara Degn ist mittlerweile seit Anfang 2017 Pensionistin.
DEGN: Wie geht es dir nun als Allgemeinärztin nach fast einem Jahr?
EICHNER: Die Zeit der Übergabepraxis war für die Patienten wie auch für mich sehr wichtig; wir konnten uns beschnuppern und auch „überprüfen“. Wenn ich nicht genau wusste, wie ich einen Patienten einschätzen soll, habe ich meine Vorgängerin gefragt, umgekehrt haben die Patienten sehr wohl auch immer wieder bei ihr nachfragt, ob sie denn das jetzt wirklich so machen sollten, wie ich vorgeschlagen hatte. Das hätte mich als Ärztin natürlich kränken können – hat es aber nicht. Ich dachte mir, natürlich müssen die Patienten auch erst Vertrauen zu mir aufbauen, und da fragen sie halt bei jemandem Vertrauten nach. Ich spürte dann allmählich sehr wohl das wachsende Vertrauen.
DEGN: Kannst du nach getaner Arbeit gut „abschalten“?
EICHNER: Durch die räumliche Entfernung – ich wohne nicht im selben Ort – musste ich lernen, mit dem Tag abgeschlossen zu haben, bevor ich nach Hause fahre; das ist natürlich nicht so leicht – aber es geht zunehmend besser. Und dass man immer wieder etwas mit nach Hause nimmt, ist, glaube ich, ganz normal – würde mir nichts nahegehen, so wäre das aus meiner Sicht nicht normal. Das persönliche Abgrenzen lernt man mit der Zeit. Zu Beginn hatte ich schon gedacht, ich müsse es jedem Patienten recht machen und die Wünsche der Patienten erfüllen. Jetzt lerne ich zunehmend, auch Nein zu sagen.
DEGN: Nach wenigen Monaten haben sich die Rahmenbedingungen deiner Arbeit ja noch einmal sehr geändert …
EICHNER: Ich bin nach neun Monaten Einzelpraxis seit Jänner mit meinen Patienten ins Gesundheitszentrum Enns übersiedelt und bin Teil eines Teams aus sechs Allgemeinmedizinern geworden. Ich bin endlich an meinem Ziel angekommen! Es ist schon sehr befreiend, dieses ewige Gefühl, „das muss noch passieren“, ist weg. Ich habe nun keine Aufgabe mehr zu verfolgen, sondern muss mich nur mehr der ärztlichen Arbeit widmen.
DEGN: Es klingt so als seist du sehr zufrieden?
EICHNER: Ja, das bin ich wirklich. Die Arbeit im Gesundheitszentrum macht mir viel Freude.
DEGN: Was ist anders als in der Einzelpraxis?
EICHNER: Die Arbeit im multiprofessionellen Team. Einerseits kann ich mich in unklaren Fällen jederzeit mit meinen Kollegen besprechen, andererseits sind die nichtärztlichen Mitarbeiter eine enorme Entlas-tung. Der Sozialarbeiter kommt aus dem Wagner-Jauregg-Krankenhaus und ist bestens vernetzt. Er kümmert sich um organisatorische Dinge wie Pflegegeld, Heimhilfen, Plätze in Tageskliniken oder betreutes Wohnen oder Rehabilitationseinrichtungen. Wenn ich bspw. eine Diätologin brauche, kann ich gleich einen Termin in unserem Gesundheitszentrum vereinbaren – und ich kann danach in der elektronischen Dokumentation auch die Inhalte ihrer Beratung einsehen. Wir haben einen Geschäftsführer, der sich um wirtschaftliche und organisatorische Belange kümmert. Wenn der Drucker nicht funktioniert, schrei ich, und es kommt jemand!!! Im benachbarten Zimmer arbeite ich weiter.
DEGN: War das nicht ein schwieriger Anfang: Sechs Ärzte besiedeln mit ihren eigenen Ordinationsassistentinnen und einem neuen Team von Zusatzberufen gleichzeitig ein neues Gebäude mit einheitlicher EDV?
EICHNER: Die Zeit vor dem Umzug war sehr stressig, vieles war auch unklar. Aber jetzt funktioniert die Arbeit im Gesundheitszentrum von Tag zu Tag besser.
DEGN: Was haben denn die Patienten zu den Veränderungen gesagt?
EICHNER: Vor allem die Patienten der Ärzte mit großen Praxen waren von Anfang an von der gut organisierten Struktur des Gesundheitszentrums sehr angetan: keine zweistündigen Wartezeiten mehr in engen Wartezimmern, verbessertes Angebot an Leistungen usw. Aber es gibt auch Patienten, die von Änderungen niemals begeistert sind und über die Notwendigkeit der Terminvereinbarung, die örtliche Veränderung, den großen Betrieb und Ähnliches jammern. Das wird sich mit der Zeit sicher einschleifen, ich sehe das entspannt. Und wie schon gesagt – ich habe gelernt: Jedem kann man es nicht recht machen.
EICHNER: Möchtest du unser Gesundheitszentrum besuchen kommen?
DEGN: Sehr gerne! Es ist schade, dass es so lange gedauert hat, bis Gruppenpraxen dieser Art möglich wurden. Ich hatte vor 30 Jahren auch den Traum von Zusammenarbeit in einem Team: Ich wollte ein Zentrum mit Allgemeinmedizinern, nichtärztlichen Mitarbeitern und vor Ort einmal wöchentlich Facharzttermine (z.B. Orthopädie, Gynäkologie, Innere Medizin) haben. Die politischen Rahmenbedingungen waren damals völlig andere. So ist es ein Traum geblieben, der Kraftaufwand, so eine Einrichtung durchzusetzen, war seinerzeit nicht abzusehen.
EICHNER: Und wie war das Ende deiner Tätigkeit als Hausärztin?
DEGN: Die Übergabe an meine Nachfolgerin ist sehr gut verlaufen. Ich bin froh, dass eine Frau die Praxis übernommen hat, wir waren immer ein weibliches Team. Meine Ordinationsassistentinnen sind geblieben, sie schaffen Kontinuität für die Patienten. Ich denke, die Kollegin hat ähnliche Gedanken wie ich zur Praxisführung und Patientenbetreuung. Ich bin sehr erleichtert, dass es so gekommen ist – hätte ja auch ganz anders sein können. Die erste Zeit war nicht einfach für die neue Kollegin: lauter neue Patienten und noch dazu der frühe Beginn der heurigen Grippewelle. Sie dürfte mit großem Einsatz einen guten Start geschafft haben.
EICHNER: Fehlt dir die Arbeit?
DEGN: Nein! Das letzte halbe Jahr war sehr arbeitsintensiv, ich habe nach sechs Wochen immer noch das Gefühl, auf Urlaub zu sein. Ich genieße die frei verfügbare Zeit ohne schlechtes Gewissen und ohne einen Funken von Langeweile. Es wird eine Zeit kommen, wo ich wieder Lust bekommen werde, mich zu einer Aufgabe zu verpflichten. Vielleicht wird es ja auch einmal Enkelkinder geben … Es ist auch eine Erleichterung, nach drei Jahrzehnten keine Verantwortung mehr tragen zu müssen. Im Hinterkopf jeder Ärztin ist immer die Angst vor einem Fehler – es ist eine Erleichterung, dass diese Angst jetzt weg ist.
DEGN: Wie sieht deine „Work-Life-
Balance“ aus?
EICHNER: Prima. Durch die fixe organisatorische Struktur der Gruppenpraxis habe ich mehr freie Zeit als früher. Meine Kinder sind nun beide im Kindergarten, mein Ehemann und ich teilen uns die Kinderbetreuung ohne Probleme, ich habe sogar Zeit für Sport!
DEGN: Was ist aus deiner Angst vor einem Ausfall durch Krankheit geworden?
EICHNER: Im Team ist diese Angst kleiner. Ich weiß, der Betrieb läuft weiter, wenn ich einmal krank bin, wir vertreten uns gegenseitig, ich weiß die Patienten versorgt. Wir haben eine Regelung untereinander, wie viele Tage jeder frei haben kann und ab wann ein Vertreter zu stellen ist. Für den Fall einer längeren Krankheit werde ich Ersparnisse anlegen. Die Tatsache, dass wir zwei in der Familie sind, die Geld verdienen, ist natürlich auch entlastend.
DEGN: Ich habe den Eindruck, du hast einen großartigen Start hingelegt. Es war sicher kein einfaches erstes Praxisjahr. Ich freue mich schon, euer Gesundheitszentrum einmal besichtigen zu kommen!