Gesundheitsreform - Primary Health Care oder Fließbandmedizin?

Nicht erst seit gestern beschäftigen sich Stakeholder und Gesundheitsberufe mit der Entwicklung und Umsetzung der Gesundheitsreform – und damit auch der Primärversorgung in Österreich. Gesundheitsministerium, Hauptverband, Ärztekammern, die wissenschaftliche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM), wir als JAMÖ, Vertreter vieler Gesundheitsberufe, der Patienten und viele mehr erarbeiteten gemeinsam das Primärversorgungkonzept. Dank intensiver konstruktiver Diskussionen wurde am 30.6.2014 „Das Team rund um den Hausarzt (!)–Konzept zur multiprofessionellen und interdisziplinären Primärversorgung in Österreich“ beschlossen. Ein Meilenstein in der österreichischen Gesundheitspolitik?

Als junge und zukünftige AllgemeinmedizinerInnen Österreichs blicken wir teils sehnsüchtig, teils kritisch über die Grenzen unseres Landes – wir verfolgen und vergleichen nationale und internationale Entwicklungen. Wir wollen eine bessere Zukunft für die Allgemeinmedizin Österreichs, ohne bereits gemachte Fehler zu wiederholen. Wir fordern Kreativität und Achtsamkeit in der Umsetzung von („sogenannten“) PHC-Projekten.

Primary Health Care trifft immer wieder auf sprachliche Hindernisse und konzeptuelle Missverständnisse. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es unzählige ähnliche aber doch unterschiedliche Definitionen dafür, was damit gemeint ist. Und in der politischen und täglichen Diskussion gibt es mehr PHC-Definitionen als Diskutanten. PHC als Abkürzung für die Primärversorgung wird international auf verschiedenste Weisen gelebt. In den meisten Fällen ist die Allgemein- bzw. Familienmedizin der zentrale Drehpunkt dieser Systeme. So auch im neuen Österreichischen Konzept: Hausärzte sollen die Grundversorgung der österreichischen Bevölkerung gewährleisten – wir werden nicht abgeschafft, wir sind erwünscht.

Was bedeutet also PHC im österreichischen Kontext? Das Konzept „Das Team um den Hausarzt“ ist Grundlage für die laufenden „PHC-Diskussionen“ und „PHC-Projekte“ in Österreich. In seiner Textform ermöglicht es das Eingehen auf alle österreichischen Bedürfnisse – es bietet eine größtmögliche Flexibilität in der Umsetzung neuer Primärversorgungsideen und für jeden österreichischen Mikrokosmos. Primärversorgung muss nicht zwingend in Zentren mit mehreren HausärztInnen unter einem Dach geschehen, sondern kann auch multilokal in Netzwerken mit geregelter, interdisziplinärer Zusammenarbeit gelebt werden. Diese Netzwerke werden ebenso als Primärversorgungseinheit angesehen wie die von manchen oft gefürchteten „Ärztezentren“.

Sind Primärversorgungszentren ein gesundheitspolitischer Irrweg?

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist man bereit, neue Wege zu gehen und neue Versorgungsformen zu entwickeln, letzten Endes um tatsächlich Krankenhausambulanzen zu entlasten, nicht notwendige Hospitalisierungen zu vermeiden und unser Gesundheitssystem weiterhin finanzieren zu können. Tatsächlich sieht das Konzept durch geregelte Zusammenarbeitsformen auch eine verbesserte Erreichbarkeit der HausärztInnen zu Tagesrandzeiten vor, bestehen Bestrebungen die Nachtdienste neu zu regeln, die Kompetenzen der Hausärzte zu definieren und dadurch aufzuwerten – und nicht zuletzt zu einem gewissen Grad diese auch zu vereinheitlichen. Eine Versorgungsgarantie soll erreicht werden. Es besteht zum ersten Mal die Bereitschaft, Pilotprojekte zu finanzieren, zu evaluieren und nach Lösungen zu suchen, die in ihren unterschiedlichsten Ausformungen auch die entsprechenden „Mikrokosmen“ Österreichs bedienen. Hierzu zählen auch weiterhin Einzelpraxen, die in einer definierten Zusammenarbeit untereinander und eventuell durch zusätzliche Anstellung von jungen KollegInnen das Weiterbestehen der landärztlichen Versorgung sichern, ohne als Einzelperson 24/7/365 alleine für seine PatientInnen da sein zu müssen – Arbeitsbedingungen, die sich heutzutage niemand mehr antun will. Besser organisierte und besser bezahlte Nachtdienstbereitschaften (u.a. Sprengelzusammenlegungen), zum Beispiel in Zusammenarbeit mit lokalen Rettungsdiensten, sind ebenso ein Zeichen der Zeit wie Pilotprojekte, welche über Sonderfinanzierungen zum Starten gebracht werden und bis dato nicht dagewesene Honorierungs-und Finanzierungsmöglichkeiten liefern. Ein Beispiel wäre hier das PHC-Projekt Enns, ein sorgfältig durchdachtes und mühsam erarbeitetes aber durchaus vielversprechendes Konzept eines „Ärztezentrums“ ohne jeglichen Kontext der gefürchteten Gesundheitsfabriken mit Fließbandmedizin.

Wo sind nun die Kritik- und Gefahrenpunkte in den derzeitigen Entwicklungen?

Achtsamkeit geboten: Aus den Entwicklungen der letzten Wochen und Monate zeigt sich einmal mehr, dass „Wien anders ist“. Ärztezentren mit angestellten „AllgemeinmedizinerInnen“ vor Krankenhäuser zu stellen, ist eine Art der medizinischen Versorgung, aber wenn keine kontinuierliche Betreuung gewährleistet ist definitiv keine Primärversorgung. Diese kann nur stattfinden, wenn eine Kontinuität in der Beziehung zwischen den Patienten und den betreuenden Teams garantiert ist. Wie viel Präventivmedizin wird in solchen Walk-In Zentren stattfinden, wenn die betreuenden AllgemeinmedizinerInnen jedes Mal wechseln und damit kein Vertrauensverhältnis aufbauen können? Zwar wird es auch für solche Ärztezentren genug PatientInnen geben, aber es darf bezweifelt werden, ob diese dann wirklich ihre Aufgaben im Sinne des ursprünglichen Gedanken der „Primary Health Care“ erfüllen können. Nimmt man diesen nämlich ernst, geht es nicht nur um die Reduktion von Spitalsaufenthalten.

Es geht um die Stärkung der Gesundheitskompetenz, um Gesundheitsförderung und Prävention, um eine größtmögliche Chancengleichheit im Gesundheitsbereich, die auch die „Social Determinants of Health“ berücksichtigt. Die neuen Konzepte müssen unbedingt transparent und nachvollziehbar monitorisiert und evaluiert werden. Denn wenn sie ihre Ziele nicht erfüllen, ist die Angst mancher von einer neuen Form der Zweiklassenmedizin im städtischen Bereich vielleicht nicht so unbegründet. Kontinuität in der Versorgung darf keine „Privatleistung“ sein, sie muss Grundlage der Primärversorgung sein. Ansonsten werden Kostenersparnis und höhere Behandlungsqualität nur leere Phrasen bleiben und das Berufsbild als AllgemeinmedizinerIn im öffentlichen Gesundheitssystem noch unattraktiver als bisher. Denn die Kontinuität ist nicht nur für die PatientInnen wichtig, sondern auch ein wesentlicher Motivationsfaktor für das Behandlungsteam – und dieses darf man im neuen System nicht unberücksichtigt lassen.

Verhindert PHC die Aufwertung der HausärztInnen?

Weniger als 5% der Bevölkerung werden in naher Zukunft von „Pilotprojekten“ versorgt– und der Rest? Im Wesentlichen wird sich nur ein Bruchteil der Versorgungsstruktur ändern, sonst bleibt wohl alles beim Alten. Doch ist das gut? Umsetzungs- und Evaluierungszeiträume von 5 Jahren und mehr werden angegeben. Betrachtet man die rezenten Entwicklungen, besteht eine berechtigte Angst, dass es in naher Zukunft nicht mehr ausreichend viele HausärztInnen geben wird. Mit der neuen Ausbildungsreform kommen in einigen Jahren auch JungärztInnen vermehrt in die Lehrpraxis – sofern eine Einigung zur Finanzierung gefunden wird. Wir wissen ungefähr, wie viele junge KollegInnen wir in Zukunft bräuchten, um die Versorgung aufrecht zu erhalten, wir wissen jedoch nicht, ob wir auch genug junge ÄrztInnen finden werden, die diesen Beruf überhaupt ergreifen wollen. Es spielt dabei nicht nur die Abwanderung von jungen KollegInnen eine Rolle, es ist auch die fehlende Wahrnehmung des Hausarzt-Berufes unter jenen, die Bleiben. Dabei wäre der Beruf prinzipiell ein wunderbarer, wird aber von vielen gar nicht in seiner eigentlichen Form kennen gelernt. Das Problem von subjektiv wahrgenommenen Hindernissen und Ängsten und das Problem der fehlenden beruflichen Flexibilität kennen wir alle. Eine Lösung dafür brauchen wir nicht nach einer Evaluation in 5 Jahren, wir brauchen sie JETZT. Wir wissen wie viele „erfahrene KollegInnen bald in Pension gehen. Mit jeder Pensionierung gehen wertvolles Wissen und qualifizierte Tutoren verloren. Zumindest dieser Wissensverlust ist nicht messbar.

An den Universitäten muss Allgemeinmedizin gelehrt und auch gelebt werden – Allgemeinmedizin ist ein Fach, aber auch eine Einstellung. Sie ist es wert gewählt und unterstützt zu werden! Eine hohe Ausbildungsqualität muss gerade für die zukünftigen AllgemeinmedizinerInnen gewährleistet sein, immerhin sollen sie in Zukunft eine noch größere Rolle in der Versorgung der Bevölkerung einnehmen.

Aus Alt macht Neu – Verbrauchen Primärversorgungszentren Fördermittel?

Was es braucht, ist eine Hervorhebung der bereits laufenden Kooperationsformen, die zum Teil seit Jahren strukturell geregelt zusammenarbeiten und dies bislang ohne jegliche Honorierung taten. Es muss auch die Möglichkeit geschaffen werden, diese bestehenden, erfolgreichen Best practice-Beispiele in den Stand von offiziellen Pilotprojekten zu heben und deren Rahmenbedingungen nachzubessern – und damit einmal in aller Förmlichkeit und Ehrlichkeit das Engagement aller Beteiligten zu würdigen. Kreativität ist gefragt, der Blick über den Tellerrand gefordert und auch die Toleranz zur Experimentierfreudigkeit essentiell – ohne neue Wege zu gehen, werden wir den Irrgarten auch nicht verlassen. Und wenn zu dieser Experimentierfreudigkeit auch ein finanzieller Anreiz und Förderungen zählen, sei‘s drum.

Salus publica suprema lex esto

Es bleibt abzuwarten, welche weiteren Pilotenprojekte noch unter dem Mantel der Primärversorgung geboren werden. Entwicklungen geschehen nur dadurch, dass man aus Fehlern lernt. Man muss aber auch mutig und aufrichtig genug sein, sich diese einzugestehen und zur Weiterentwicklung bereit sein. Dafür braucht es eine entsprechende Umgebung, in der von allen Stakeholdern die notwendige Offenheit und Dialogbereitschaft an den Tag gelegt wird, um konstruktiv gemeinsam zu gestalten. Diese darf man einfordern, muss sie aber auch selbst leben.