Wenn eine Konferenz, für die 50 Teilnehmer erwartet werden, von über 200 Leuten besucht wird, dann muss es wohl um etwas ganz Besonderes gehen. Dabei ist das Thema nicht wirklich neu – sogar schon fast 40 Jahre alt. Es geht um Primary Health Care (PHC), also um die moderne Form der Primärversorgung.
PHC ist gerade das große Thema in Österreich. Dieses Jahr sollen laut Plan schon 1% der Bevölkerung über neue Primärversorgungsmodelle betreut werden. Trotzdem scheint man sich noch nicht ganz einig zu sein, was Primärversorgung eigentlich ist und ob man dafür mehr als nur Hausärzte braucht. Deswegen war es sicher kein Fehler, die Konferenz mit einer wissenschaftlichen Definition und Erläuterung des Ist-Zustandes zur Primärversorgung zu beginnen. Eine aktuelle Expertendefinition bezeichnet diese dabei u.a. als „familienorientierte und gemeindenahe Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung“, „durch ein Team erbracht“ und in einer „dauerhaften Partnerschaft mit den PatientInnen und LaienversorgerInnen“. Die Primärversorgung spielt dabei eine „zentrale Rolle in der gesamten Koordination und Kontinuität der Gesundheitsversorgung“.
Natürlich war Österreich auch bisher schon nicht ohne Primärversorgung. Auf der Konferenz wurden einige Beispiele für funktionierende und innovative Projekte hervorgehoben, wie etwa das Sozialmedizinische Zentrum Liebenau, das bereits seit Mitte der 1980er-Jahre ein Konzept lebt, das sogar über das hinausgeht, was im aktuellen Reformpapier von PHC erwartet wird. Neben dem SMZ Liebenau hat das Institut für Allgemeinmedizin der MedUni Graz über ihr „In Primo“-Projekt weiter Praxen in der Steiermark identifiziert, die bereits innovative Ansätze zeigen. Dabei wurden Kriterien wie die Zusammensetzung des Praxisteams oder die Versorgung spezieller Zielgruppen herangezogen. Das zeigt auch, dass neue PHC-Modelle am ehesten aus der Erweiterung bereits bestehender Projekte hervorgehen werden. Auch die Vorträge vom SMZ Liebenau und dem PHC Mariahilf zeigten, dass es für ein gutes Funktionieren solcher Modelle einer engen Zusammenarbeit bedarf, die bis zu einem gewissen Grad natürlich über eine Zeit lang wachsen muss. Die präsentierte Übersicht über die nur sehr spärlich vorhandenen neuen PHC-Projekte, die es derzeit in Österreich gibt, bestätigt ebenfalls die Notwendigkeit, auf bereits existierenden Projekten aufzubauen.
Auffallend beim Ergebnis des In-Primo-Projektes war auch, dass fast alle innovativen Praxen auch gleichzeitig Lehrpraxen waren. Das ist besonders deshalb wichtig, weil Innovation auch in der Ausbildung präsent sein muss. Die kommende Generation an AllgemeinmedizinerInnen – und in der Tat aller Gesundheitsberufe – muss aus erster Hand erfahren, was innovative Primärversorgung, was PHC wirklich bedeutet: nämlich einen Blick auf das große Ganze zu haben; nicht nur auf den ganzen Menschen, sondern auf die ganze Community.
Wie wichtig das ist, haben wir von der jüngeren Generation auf der Konferenz auch nochmals hervorzuheben versucht. Denn momentan gibt es eine Fülle an Herausforderungen, die es zu meistern gilt, um sicherzustellen, dass wir auch in den kommenden Jahren genug AllgemeinmedizinerInnen ausbilden, und zwar AllgemeinmedizinerInnen, die sich dann schlussendlich auch in der Primärversorgung niederlassen. Die kürzlich erfolgte und eher chaotische Umstellung der postpromotionellen Ausbildung scheint auf viele Kollegen noch eher abschreckend zu wirken. Es gibt noch kaum Kollegen, die sich aktiv für die neue Ausbildung für Allgemeinmedizin entschieden haben. Hier gilt es die Attraktivität der Ausbildung möglichst rasch weiter zu erhöhen, die Lehrpraxis flächendeckend vollständig zu finanzieren und auch, in Zusammenarbeit mit den Krankenhausträgern, die Jungärzte in Basisausbildung für die Allgemeinmedizin zu begeistern. Denn unter den herrschenden Bedingungen profitieren auch die Krankenhäuser von einer qualitativ hochwertigen Primärversorgung. Die derzeitige Abwanderungstendenz erklärt sich ja nicht zuletzt aus den Arbeitsbedingungen in den Spitälern – die trotz Arbeitszeitverkürzung und Gehaltserhöhung noch weit entfernt von „gut“ sind. Ein Faktor ist dabei auch die Überlastung – zu viele PatientInnen, um die sich das Spital eigentlich nicht kümmern sollte, die aber, aus welchen Gründen auch immer, dennoch dort Hilfe suchen.
Würde die Primärversorgung so gestärkt, dass sie die ihr eigentlich zugedachte Aufgabe auch erfüllen könnte und dürfte, würde wohl auch die Arbeitszufriedenheit von Gesundheitsberufen in der Sekundär- und Tertiärversorgung steigen.
Man sieht also, die Rolle der AllgemeinmedizinerInnen ist sehr wichtig. Und eigentlich bräuchte es noch viel mehr von uns! Weniger als 10% der Ärzte in Österreich sind Allgemeinmediziner mit einem Kassenvertrag. Bedenkt man, dass doch eigentlich ein Großteil der Versorgung in der Primärversorgung stattfinden sollte, scheint es eindeutig ein Verteilungsproblem zu geben. Diese Nachwuchs- und Verteilungsproblematik gibt es nicht nur in Österreich. In Deutschland beschäftigt man sich bereits seit Jahren damit, wie man Ärzte zur Allgemeinmedizin (aber auch für andere Fächer) aufs Land holen kann. Ein innovatives Projekt sind „die Landarztmacher“ (http://www.landarztmacher.de) aus Bayern (siehe Bericht in der Ärzte Krone 8/2016). Mit gezielten Aktionen versuchen sie bereits StudentInnen eine Erfahrung in einer Landarztpraxis zu bieten. Man muss die Gemeinschaft am Land, die Beziehung zu PatientInnen und Gemeinde und die Freude der dort tätigen ÄrztInnen an ihrer Arbeit direkt vor Ort vermitteln, so können sie die jungen KollegInnen auch für diese Tätigkeit begeistern – und es funktioniert!
Für die Allgemeinmedizin nehmen wir von der Zukunftskonferenz viele Anregungen mit: einerseits, wenn es um Vorbilder für innovative Modelle geht, andererseits, wenn es um die Rekrutierung von zukünftigen KollegInnen geht. Für uns war es deshalb sehr förderlich, dass der Schwerpunkt der Konferenz heuer noch sehr auf der Allgemeinmedizin lag, die ja auch einen wichtigen Teil der Primärversorgung darstellt. Für nächstes Jahr ist der Schwerpunkt jedoch mehr auf Interprofessionalität gelegt – und auch das wird uns viele spannende neue Gesichtspunkte eröffnen. Der Austausch zwischen den Berufsgruppen ist nämlich nicht nur in der täglichen Praxis, sondern auch in der Diskussion über das System an sich sinnvoll. Viele Probleme betreffen nicht nur eine Berufsgruppe, sondern mehrere, wenn auch vielleicht in unterschiedlichen Ausprägungen. Aber wird sich nicht etwa im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege auch bald die Frage nach einer speziell auf die Primärversorgung ausgerichteten Ausbildung stellen? Gilt es nicht im selben Atemzug mit der Forderung nach interprofessionellem Arbeiten auch die Forderung nach interprofessioneller Ausbildung aufzustellen?
Es macht Sinn, den Austausch zwischen den beteiligten Berufsgruppen zu fördern und zu strukturieren. Umso erfreulicher war es, dass sich eine Vielzahl an Berufsverbänden und Privatpersonen für die Idee eines Österreichischen Forums für Primärversorgung interessiert. Die Gründung eines solchen Forums wurde im Anschluss an die Konferenz in die Wege geleitet. Das macht Hoffnung, dass dieses Forum in den nächsten Jahren eine wichtige Basis für die weitere Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen und damit einer starken multiprofessionellen und interdisziplinären Primärversorgung für Österreich darstellen wird.
Die Zukunftskonferenz PHC – Innovative Modelle in der Primärversorgung fand von 8.–9. April 2016 an der MedUni Graz statt. Sie wurde vom Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung (IAMEV) der MedUni Graz in Kooperation mit dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger veranstaltet.
Veröffentlicht in der Ärzte Krone 9/2016