Eine Analyse des Regierungsprogramms 2020-2025 hinsichtlich Primärversorgung

Eine optimistische Interpretation aus Sicht der Allgemeinmedizin

Das Kapitel Gesundheit ist sicher nicht das am detailliertesten Ausgearbeitete im Regierungsprogramm^1. Eine seriöse Interpretation, ohne dabei gewesen zu sein, ist also faktisch nicht möglich. In viele Sätze und Schlagworte kann und muss man viel hinein interpretieren, um überhaupt etwas herauslesen zu können. Ich bin mit einem (zweck-)optimistischen Zugang an diese Analyse herangegangen, so ist diese auch zu lesen. Wer das Kapitel mit einer pessismistischen, oder auch einer real-österreichische Einstellung liest, wird wahrscheinlich zu anderen Schlüssen kommen. Auch ausgeklammert sind viele Aspekte, die nicht unmittelbar die Primärversorgung betreffen.

Attraktivierung

Primärversorgung ist ein präsentes Thema im Gesundheitskapitel des Regierungsprogrammes (Seite 264 bis 270). Der medial omnipräsente Mangel an HausärztInnen wird nicht explizit benannt, aber mehrfach werden Maßnahmen gegen einen Fachkräftemangel genannt. Ein Punkt heißt schlicht wohnortnahe Versorgung durch niedergelassene Kassenärztinnen und Kassenärzte. Gegen den Ärztemangel sind mehrere der üblichen Maßnahmen genannt, und wahrscheinlich nicht die Wesentlichsten:

  • Landarztstipendien
  • Stipendien und spezielle Studienplätze für Personen, die sich für einen gewissen Zeitraum für eine Tätigkeit in Österreich verpflichten
  • kontinuierliche Ausweitung der Studienplätze und der anschließenden Ärzteausbildung
  • Anreize um eine Abwanderung von Fachkräften ins Ausland zu verhindern (diese werden nicht näher bezeichnet)

Weitere Attraktivierung der Rahmenbedingungen im weitesten Sinne ist die Ermöglichung von flexiblen Kooperationsmodellen für PVEs und Facharztzentren. Was mir inhaltlich nicht ganz klar ist, aber potentiell auch spannend werden könnte, ist die Erweiterung der Vertragsarztmodelle mit Ausbau und Weiterentwicklung. Tatsächlich könnte man ja angesichts des derzeitigen Trends unter den ÄrztInnen in Richtung Wahlarztmedizin auf die Idee kommen, die Kassenverträge bräuchten eine Weiterentwicklung, um wieder für mehr ÄrztInnen interessant zu sein.

Ausbildung

Die Studienplatzkapazitäten sollen kontinuierlich erweitert werden. Dies liest sich zumindest schon mal anders, als die von der ÖVP im Wahlkampf noch geforderte Verdoppelung der Studienplätze. Immerhin wird auch die postgraduale Ärzteausbildung erwähnt: auch hier sollen die Kapazitäten erweitert werden, was ja angesichts der Studienplatzerweiterung unumgänglich ist, und diese soll auch bedarfsorientert stattfinden. Diese Bedarfsorientierung ist leider nicht näher definiert, es ist also nicht klar, ob schlicht die Zahl der postgradualen Ausbildungsplätze an die Absolventenzahl angepasst werden soll (dzt. passiert das augenscheinlich ziemlich unabhängig voneinander), oder ob es auch um die Steuerung der Verfügbarkeit von Plätzen in unterschiedlichen Fächern geht.

Das im Einführungsabsatz die Einführung eines Facharztes für Allgemeinmedizin während dem Medizinstudium versprochen wird, ist hoffentlich als Schlampigkeitsfehler zu deuten - der aber mehr als peinlich ist. Jedenfalls steht eine Ärzteausbildung NEU mit Fokus Allgemeinmedizin drin und auch der Facharzt Allgemeinmedizin, der ein fixer Punkt im Regierungsprogramm ist, inklusive Attraktivierung der Allgemeinmedizin-Ausbildung. Im Regierungsprogramm 2017-2022 war noch von einer Prüfung der Einführung eines Facharztes für Allgemeinmedizin gesprochen worden. Anscheinend ist eine Prüfung nun nicht mehr notwendig und der Facharzt für Allgemeinmedizin per se unstrittig. Die genaue Ausgestaltung wird aber noch zu ausreichend Diskussion führen.

Unter der erwähnten Attraktivierung ist wohl (nur?) die Finanzierung der Allgemeinmedizin im klinisch-praktischen Jahr gemeint. Das wäre tatsächlich schon ein Meilenstein, da ja an der Meduni Wien mit mehr als 600 AbsolventInnen pro Jahr im Gegensatz zu den anderen Medunis immer noch kein verpflichtende Rotation in der Allgemeinmedizin etabliert ist. Ob die Finanzierung im Sinne einer Aufwandsentschädigung für die Lehrordinationen gemeint ist (wie etwa an der Meduni Graz) oder für die Studierenden (wie bei vielen Spitalsträgern üblich), ist nicht erwähnt.

Inhaltlich auch unklar und potentiell vielbedeutend ist das Ziel: Integration der Inhalte der Basisausbildung um das Klinisch-praktische Jahr. Die Basisausbildung wurde erst mit der Ärztegesetznovelle 2014 eingeführt und wurde gerade von Studierenden dafür kritisiert, dass eine zu starke Überschneidung mit dem letzten Studienjahr, dem klinisch-praktischen Jahr, besteht. Die Lernziele in den Rasterzeugnissen zur Basisausbildung sind auch entsprechend "basic". Dazu kommt, dass die Basisausbildung wohl bei manchen Krankenhausträgern ein Flaschenhals ist, der zu Wartzeiten für Absolventen beim Beginn der postgradualen Ausbildung führt. Hie und da hat man daher auch schon die Idee vernommen, dass die Basisausbildung womöglich wieder abgeschafft werden sollte.

Primärversorgung

Viele Punkte, wie die Aufwertung und Weiterentwicklung der telefonischen Erstberatung 1450 oder der Ausbau der Primärversorgungseinheiten, sind wenig überraschend. Alles andere wäre ja eine Abkehr von der letzten Gesundheitsreform und aller dorthin gehenden Systembemühung der letzten Jahre gewesen.

Etwas unreflektiert, aber leider auch konsistent mit den bisherigen Bemühungen, erscheint der Zusatz bei dem Ausbau der Primärversorgung, die den Bedürfnissen der Versicherten entgegenkommt (z.B. Etablierung von Allgemeinmedizinischen Akutordinationen, vor oder in den Spitälern zur vorgelagerten Versorgung). Hier werden leider wieder vollkommen unterschiedliche Versorgungskonzepte vermischt – nämlich die Akutversorgung zu Randzeiten und die eigentliche Primärversorgung, die sich ja durch eine kontinuierliche, langfristige Betreuung von gesundheitlichen Anliegen jeglicher Art definiert (sowohl akut wie chronisch als auch präventiv). Die Formulierung scheint eher den Bedürfnissen der Spitalsträger entgegen zu kommen, als jenen der Versicherten. Man könnte ja annehmen, dass sich Versicherte im Großen und Ganzen vielleicht eher mehr Zeit für Gespräche wünschen würden, als eine dem Spital vorgelagerte Ordination. Das hier nie eine scharfe Trennung im öffentlichen Diskurs stattgefunden hat, ist wirklich ärgerlich. Die Allgemeinmedizin hat es leider nie geschafft, hier die hausärztliche Versorgung und die allgemeinmedizinische Akutversorgung sauber zu trennen.

Einschreibemodelle

Interessant ist jedoch jedenfalls die Forderung Einschreibmodelle mit Anreizsystemen sind für alle Patientinnen und Patienten zu etablieren. Einschreibmodelle haben erst seit kurzem den Einzug in den öffentlichen Diskurs gefunden. Vor allem nach der öffentlichen Berichterstattung über die ungeregelte Inanspruchnahme in Österreich (Hoffmann 2019), hat sich ein Einschreibemodell als möglicher Lösungsansatz in mehreren Kommentaren und Forderungen wiedergefunden. Nicht zuletzt hat auch die Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) diese Forderung immer wieder vertreten. Im Primärversorgungs-Gesamtvertrag für Salzburg ist sogar erstmals so eine Regelung enthalten. Offensichtlich sollen solche Lösungen nun auch für andere Bundesländer (und vielleicht auch andere Versorgungsformen?) ausgeweitet werden.

Population Health

Einschreibemodelle sind insbesondere für ein Schlagwort interessant, dass wirklich nur isoliert als solches im Programm aufscheint: population health management.

Population Health ist seit ein paar Jahren ein Trend-Thema vor allem in den USA und im UK (siehe z.B. Kings Fund). Es geht um die Verbesserung von Health Outcomes für eine definierte Population und arbeitet dabei mit einem umfassenden Gesundheitsbegriff. Damit werden neben dem individuellen Verhalten auch die Umgebungsverhältnisse (Sozialwesen, Stadtplanung, etc..) wichtige Ansatzpunkte, um die Gesundheitsergebnisse zu verbessern. Wenn man population health ernst nimmt, deckt man viele "Trends" im Gesundheitswesen ab: die Integration unterschiedlicher Bereich des Gesundheitswesen aber auch anderer Lebensbereichen, datengestütztes Monitoring und Reporting, Patienten-Partizipation und Empowerement, Umsetzung gemeinde-orientierter Maßnahmen, etc..
Der Begriff steht noch ohne nähere Erläuterung im Programm, aber wenn ihn jemand da hinein geschrieben hat, der sich was dabei gedacht hat, könnte es interessant werden.

Community Nurses

Auch eine Neuerung ist die Forderung nach Community Nurses. Diese, in anderen Ländern fest etablierten, spezialisierten Pflegekräfte, werden im Kapitel Pflege als detailliertes Projekt beschrieben: 500 Gemeinden sollen eine Community Nurse als zentrale Ansprechperson für zu Pflegende und pflegende Angehörige etablieren, die vor allem auch präventiv tätig wird, bevor Pflegebedarf entsteht. Zwar sind die Community Nurses nicht im Kontext der Primärversorgung genannt, allerdings wäre hier eine enge Verknüpfung durchaus sinnvoll.

Forschung und Qualität

Offensichtlich will man mehr Wissen über das Gesundheitswesen generieren, was natürlich zu begrüßen ist. Unsere bisherige Kultur im Bereich Monitoring, Reporting und Evaluation ist ja durchaus verbesserungswürdig. Etwas kryptisch erscheint der Punkt der ausnahmslosen Nutzung von anonymisierten Daten zu wissenschaftlichen Zwecken. Wird damit etwa die Nutzung ausnahmslos aller Daten gefordert? Die wissenschaftliche Evaluierung der Implementierung von ICPC-2 wird interessanterweise explizit erwähnt und zielt wohl auch auf die bessere Verfügbarkeit von Daten aus der Primärversorgung ab.

Nicht spezifisch für die Primärversorgung, aber im Endeffekt sicher relevant, ist die bestmögliche Umsetzung von Telemedizinischen Behandlungen. Auch weitere ELGA-Projekte wie E-Rezept, E-Impfpass, etc.. werden die Primärversorgung am stärksten betreffen.

Interessant könnte der unscheinbare Punkt Unabhängige Qualitätssicherung für den niedergelassenen und stationären Bereich sicherstellen werden. Ist die derzeitige Qualitätssicherung für den Niedergelassenen Bereich durch die ÖQMed unabhängig oder nicht? Wird das Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen (BIQG) zukünftig auch die Qualitätssicherung machen? Die verpflichtende Qualitätssicherung im niedergelassenen Bereich ist im Vergleich zu anderen Ländern deutlich abgespeckter und von vielen Seiten wurde hier in den letzten Jahren immer wieder Handlungsbedarf geortet. Es könnte durchaus sein, dass hier die fehlende Eigeninitiative der Ärzteschaft hinsichtlich einer Modernisierung zum Boomerang wird.

Rahmenbedingungen

Das größte Hindernis im Gesundheitswesen waren und bleiben jedoch leider die Rahmenbedingungen des Systems selbst. Die fragementierten Kompetenzen und die geringe Gestaltungsmöglichkeit des Gesundheitsresorts auf Bundesebene werden sich wohl nicht ändern. Die Stärkung des Zielsteuerungsprozesses wird zwar im Programm erwähnt, aber lässt keine übermäßige Hoffnung aufkommen, das die Grundprobleme wirklich konsequent angegangen werden und alle Player an einem Strang ziehen - dafür sind es einfach zu viele, mit zu vielen unterschiedlichen Interessen.